Unruhige Zeiten
- christinewalch
- 29. Aug. 2019
- 6 Min. Lesezeit
Mein Besuch im Flüchtlingsheim hatte zu einer Weichenstellung geführt. Ich wusste, dass es richtig war, mich für die Menschen im Flüchtlingsheim zu engagieren. Einmal in der Woche fuhr ich also zur ehemaligen Kaserne und suchte Narine und Artak und ihre zwei kleinen Kinder auf. Ich erkundigte mich nach ihrem Ergehen, fragte, ob es etwas Neues gäbe. Darüberhinaus stellte ich Narine viele spezielle Fragen, die mit ihrer konkreten Fluchtsituation zu tun hatten, um herauszufinden, von welcher Ausgangslage aus wir weiter vorgehen konnten. Ich erfuhr, dass ihr Asylantrag bereits zwei Mal abgelehnt worden war. Der erste Negativ-Bescheid war recht rasch in die erste Asylunterkunft außerhalb von Traiskirchen geflattert, die sich in der Gegend von Texing in Niederösterreich befunden hatte. Ein Rechtsanwalt, den Narine ausfindig gemacht hatte, war ihr bei einigen Schriftstücken behilflich gewesen. Er habe aber meist keine Zeit für sie gehabt, berichtete sie. Dass der erste Bescheid negativ ausfallen würde, damit habe sie schon gerechnet, doch dass der zweite ebenfalls negativ beschieden wurde, hatte ihre Ängste doch wieder geweckt. Noch viel stärker war allerdings Artaks Angst gewachsen. Er litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und reagierte panisch, wenn Menschen in Uniformen auftauchten. Darum hatte Narine die Initiative ergriffen und begonnen, nach einer Bleibe abseits von Flüchtlingsunterkünften zu suchen. Eine Frau aus dem Ort Mank, die Narine bei einem Treffen von Flüchtlingen kennengelernt hatte, konnte Narines Familie eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Narine wusste, dass jede Art von Unruhe und Aufregung ihrem Mann zusetzen würde. "Einfach lassen meine Familie in Ruhe", betonte sie immer wieder.
Doch echte Ruhe war Narine und Artak nicht vergönnt. Der dritte Asylbescheid hing wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Würden sie einen positiven Bescheid bekommen oder erneut einen negativen? Was sollten sie tun? Für Artak wurde die Belastung zu groß. Als Beamte an der Wohnungstür erschienen und klopften, fing er an, gegen die Einrichtungsgegenstände zu schlagen und zu schreien. Er zerriss Papiere, von denen er glaubte, dass sie etwas Negatives beinhalteten. Narine versuchte, ihren Mann zu beruhigen. Dann trat sie vor die Haustüre und schloss sie hinter sich. Ganz ruhig wandte sie sich an die Beamten und erklärte die Situation. Sie sagte, dass es ihrem Mann nicht gut ginge. Sie wolle ihn ins Krankenhaus bringen. Artak blieb aber nur wenige Tage in stationärer Behandlung, dann kehrte er nach Hause zurück. Die Ärzte hatten ihm Beruhigungsmittel und Antidepressiva verschrieben.
Einige Zeit später lernten Narine und Artak eine andere armenische Familie kennen, die vorhatte, Österreich zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Gerüchte über geplante Abschiebungen waren ihnen zu Ohren gekommen, die sich allerdings später als Falschmeldungen herausstellten. Wieder kroch die Angst vor allem in Artak hoch. Kurzentschlossen kletterten Narine und Artak, ihre Kinder auf den Armen, mit den neuen Freunden in einen VW-Bus, der sie über die Grenze nach Deutschland brachte. Natürlich hatte das Geld gekostet. Was sie gemacht hatten, war ein illegaler Grenzübertritt in ein Land ohne gültigen Aufenthaltstitel, der eine Strafe nach sich zog. Das rief die Dublin-2-Verordnung auf den Plan. Diese Verordnung regelt, welcher Mitgliedsstaat für einen im Geltungsbereich gestellten Asylantrag zuständig ist. Damit soll erreicht werden, dass ein Asylsuchender innerhalb der Mitgliedsstaaten nur noch ein Asylverfahren betreiben kann. Das Rückgrat der Dublin-2-Verordnung ist die europäische Datenbank EURODAC. Sie liefert Anhaltspunkte dafür, ob der betreffende Antragsteller bereits in einem anderen Mitgliedsstaat einen Asylantrag gestellt hat. Außerdem wird untersucht, wann und wo er illegal die Außengrenzen des Geltungsbereichs der Verordnung überschritten hat.
Narine, Artak, die Kinder und die neuen Freunde wurden aufgegriffen und zunächst in einem Flüchtlingsheim untergebracht. Dort wurden sie auch befragt - das heißt, Narine übernahm es für ihre Familie, den Beamten Rede und Antwort zu stehen, so weit sie es vermochte. Anschließend brachte man sie in eine größere Unterkunft nach München. Nach weiteren wenigen Tagen erfolgte dann der Rücktransport nach Österreich. Was Narine und Artak gar nicht richtig zur Kenntnis nehmen konnten, weil die Sprachbarriere dazwischen stand, war die Tatsache, dass in ihren Akten - bedingt durch den illegalen Grenzübertritt - ein großes "Minus" aufschien. Das Warten auf den nächsten Asylbescheid zog sich in die Länge. Es rief jene unwirkliche Situation hervor, die nach außen hin aber ganz normal wirkte. Narine packte ihre zwei Kleinen in den Kinderwagen und steuerte den Sparmarkt an wie jede andere Frau. Sie schob den Wagen durch die Gänge des Geschäftes und kaufte ein, was sie an Lebensmitteln brauchte. Auf dem Rückweg traf sie eine Frau, die ebenfalls aus ihrem Heimatland geflohen war. Sie konnten sich nur bruchstückhaft verständigen, doch die liebevollen Gesten beider Frauen schafften den Brückenschlag. Bevor sie auseinander gingen, drückten sie einander ans Herz. Diese Begegnungen bedeuteten den Frauen viel. Sie waren sich der Tatsache sehr bewusst, dass sie sich nun zwar in Sicherheit befanden, dass es aber letztlich keine absolute Sicherheit gab - so lange kein weiterer Asylbescheid eintraf, der alles wieder durcheinander wirbelte. Es war nicht möglich, in Österreich ganz anzukommen, wenn es noch so viele Fragezeichen in ihren Köpfen gab! Würden sie überhaupt bleiben dürfen? Als Narine mit den Kindern in die Wohnung zurückkam, in der sie lebten, lag Artak auf dem Sofa und schlief. Er sah verhärmt und krank aus. Ihm schien jede Kraft zu fehlen. Sie betrachtete ihren Mann aufmerksam. Er hatte wirklich einiges durchmachen müssen. Angefangen hatte es in Armenien mit anonymen Anrufen. Eine barsche Männerstimme hatte Artak aufgefordert, nicht nur seinen Heimatort, sondern Armenien zu verlassen. Er gehöre nicht nach Armenien. Er sei Aserbaidschaner. Er solle verschwinden. Und zwar schnell! Anfangs versuchte Artak, diese Telefonate herunterzuspielen. Doch wurde der Klang der Stimme am Telefon immer eisiger und grausamer und drohte mit Gewalt. Sie wüssten, wo er sei, schnarrte die Stimme durch den Hörer. Sie würden ihn finden, und dann würden er und seine Frau "etwas erleben". Irgendwann kam dann der Tag, an dem sich einige Männer mit schwarzen Lederjacken vor dem Haus einfanden, in dem Artak mit Narine zusammen lebte. Narine war gerade nicht zu Hause. So war es ihr erspart geblieben, die Prügelattacke mit ansehen zu müssen. Die Verletzungen allerdings, die Artak davontrug, brachten ihn schließlich dazu, ernsthaft zu erwägen, das Land zu verlassen. Ihm war klar, dass diese Männer wiederkommen und dass sie nicht davor zurückschrecken würden, ihn umzubringen. Was waren das für Männer? Es könnte sich um eine mit militärischen Gewaltmitteln ausgestattete Gruppe gehandelt haben, die nicht in die Organisation des eigentlichen Militärs eingebunden war. Paramilitärs handeln und agieren entweder halblegal oder völlig außerhalb der Legalität. Sie operieren eher im Inneren ihres Landes, in Wirklichkeit im Auftrag oder im Interesse einer offiziellen Institution oder der Regierung. Artak konnte sich in dieser sehr gefährlichen Situation an niemanden um Hilfe wenden. Zusammen mit Narine musste er eine Entscheidung treffen. Es gab letztendlich keinen anderen Ausweg - sie würden Armenien verlassen müssen. Schweren Herzens machten sich Artak und Narine auf den Weg zu Narines Eltern, um ihnen ihren Entschluss mitzuteilen.
Narine stammte aus einer weltoffenen Familie und hatte zwei Brüder. Ihr Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann und in regelmäßiger Folge in anderen Ländern unterwegs. Er arbeitete in der Elektronikbranche und verfügte über viele Kontakte. Aus Kundenbegegnungen entstanden oft Freundschaften. So war es nicht verwunderlich, dass Narines Familie auch ausländische Gäste bei sich beherbergte. Noch vor ihrer Heirat teilte Narine über eine längere Zeit ihr Schlafzimmer mit einer jungen Amerikanerin mit armenischen Wurzeln. So lernte sie recht gut Englisch. Ihr Vater hatte einen Geschäftsfreund, der aus Damaskus kam. Nach geraumer Zeit konnte er sich auf Arabisch mit ihm unterhalten. Narine konnte ein dreijähriges Wirtschafts-Studium absolvieren. Danach arbeitete sie für das "United Nations World Food Program" in Armenien. Entgegen des Wunsches ihrer Eltern sträubte sie sich einige Zeit gegen eine Heirat. Dann lernte sie Artak kennen. Sie wusste, dass er einer binationalen Ehe entstammte und dass das Schwierigkeiten hervorrufen könnte. Dennoch entschied sie sich für ihn, der sich und seine Mutter mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Aufgrund seiner Binationalität fand er kaum eine längerfristige Arbeitsstelle. Ihre Hochzeit hatten sie - recht unüblich in der armenischen Kultur - in kleinem Kreis gefeiert.
Narines Eltern verstanden die bittere Situation, die die beiden zu raschem Handeln zwang. Sich an die korrupte Polizei zu wenden war zwecklos. Darum packten sie das Notwendigste für die Flucht zusammen. Eine bestimmte Summe Geld sollte ihnen eine Hilfe sein, wenn sie in Europa ankommen würden. Sie verabschiedeten sich von Artaks Mutter und von Narines Familie. Sie sollten einander erst nach einigen Jahren wiedersehen.
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