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It´s a long way from Armenia to Austria...

  • christinewalch
  • 29. Okt. 2019
  • 3 Min. Lesezeit

So hatten Narine und Artak sich ihr Leben eigentlich nicht vorgestellt. Sie waren sich der widrigen Umstände sehr bewusst, die Artaks Binationalität mit sich brachte. Aber sie hatten gehofft, dass sich die Lage bessern, dass Artak in Ruhe gelassen würde, dass er seiner Arbeit als Schuster weiterhin nachgehen konnte, dass er vielleicht noch einen Nebenjob ergattern könnte.... Doch nun würde ihr Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen. Zudem war Narine schwanger. In die Freude darüber, dass sie ein Baby erwarteten, mischten sich Sorgen, Bedenken und Ängste. Sie wollten keine Zeit verlieren und hatten einen LKW-Fahrer gefragt, ob er sie aus Armenien hinausbringen könnte. Der vierschrötig wirkende Mann willigte ein, sie bis nach Europa mitzunehmen, und natürlich kostete das Geld. Doch der Mann war gutmütig, wie sie erleichtert feststellten. Er machte ihnen den Vorschlag, dass sie erst nach jeder zurückgelegten Etappe der Reise bezahlen sollten. So kletterten sie mit wenigen Gepäckstücken ins Führerhaus des Lastwagens. Nachdem der Motor warmgelaufen war, stieg ihr Fahrer zu, und die Fahrt konnte beginnen. Narines Kehle wurde ganz eng, als der Lastwagenfahrer auf der Straße sein Gefährt beschleunigte. Sie verließ nicht nur ihren Heimatort Wanadsor, sondern auch ihre geliebten Eltern, ihre zwei Brüder und zahlreiche weitere Verwandten. Ihre Freundinnen blieben zurück, ihre Arbeitskolleginnen und ihr Arbeitgeber blieben ebenfalls zurück. Als sie an einer der typischen Kreuzkuppelkirchen vorbeikamen, schlug sie das Kreuzzeichen und neigte ihren Kopf zum Gebet. Artak verließ seine armenische Mutter und einen Onkel. Jahre nach dem Krieg zwischen den beiden Ländern Armenien und Aserbaidschan galt sein Vater nach wie vor als verschollen. Seine Familie war arm. Die Mutter hatte als Putzfrau gearbeitet, und Artak hatte schon bald versucht, sie durch das Geld, das er durch Gelegenheitsarbeiten verdient hatte, zu unterstützen. Als etwa 15- oder 16-Jähriger stürzte Artak kopfüber in eine Baugrube und zog sich Verletzungen am Kopf zu. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt wurde er entlassen, litt aber seitdem wiederholt an quälenden Kopfschmerzen und hatte oft Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

Die Fahrt führte durch die Türkei. Narine fühlte sich nicht ganz wohl dabei. Bei Armeniern löst allein das Wort "Aghet" - die Katastrophe - sehr große Trauer und Betroffenheit aus. Der Völkermord an den Armeniern während des 1. Weltkriegs durch das Komitee Einheit und Fortschritt im Osmanischen Reich zwischen 1908 und 1918 hatte sich in die Überlebenden gleichsam eingebrannt. Darum wollte Narine mit türkischen Leuten eigentlich nichts zu tun haben. Trotzdem nahm sie an Haltepunkten tulpenförmige Gläser aus den Händen türkischer Kellner entgegen, gefüllt mit aromatischem Tee, und trank ihn in kleinen Schlucken. Und natürlich griff sie auch zu, wenn es dünne, meist würzig gefüllte Fladenbrote gab. So näherten sie sich allmählich der Großstadt Istanbul. Noch nie hatten Narine und Artak so viele Moscheen in einer Stadt gesehen. Hunderte mussten es wohl sein, oder sogar Tausende? Überall ragten die scharfen Spitzen der Minarette in den Himmel. Und doch war Istanbul faszinierend mit seinen Sehenswürdigkeiten, den Aussichtspunkten wie dem Galata-Turm, der Galata-Brücke mit ihren Fischern und dem "Tünel", einer der ältesten Standseilbahnen der Welt, die unterirdisch verläuft. Der Tünel gilt als die älteste, dauernd im Betrieb befindliche Standseilbahn und wurde im Eröffnungsjahr 1875 in Betrieb genommen. Eine Fahrt übers Meer in Richtung Italien kam für die schwangere Narine nicht in Frage. Artak und sie wählten den Landweg, der sie durch Bulgarien, Rumänien und durch Ungarn bis dicht an die österreichische Grenze führte. Von dort marschierten sie dann geradewegs nach Österreich hinein. Junge, in Uniform gekleidete Wehrmänner mit Gewehren stellten die kleine Gruppe von Menschen auf einem weitläufigen Ackerfeld. Kommandorufe ertönten, die Soldatengruppe hielt ihre Gewehre im Anschlag. Doch die Ansprache des verantwortlichen Soldaten klang normal, ja sogar freundlich! Narine, die Englisch sprechen konnte, verstand die Begrüßungsworte: "Welcome in Austria!" Dann stellte der Soldat einige Fragen - woher sie gekommen waren, ob es noch andere Gruppen mit Flüchtlingen gäbe. Um die sichtlich schwangere Narine waren die Soldaten besonders bemüht. Sie reichten ihr einen Becher mit Wasser und ließen sie auf einem Feldstuhl Platz nehmen. "Artak, sie haben uns willkommen geheißen!", sagte Narine und war ganz überwältigt. "Ich glaube, dass wir in ein gutes Land kommen." An anderen Grenzübergängen hatte man ihnen mit Stöcken gedroht, der Umgangston war meist barsch und herrisch gewesen. Der Soldat wandte sich an die kleine Flüchtlingsgruppe und sagte, dass sie in der Republik Österreich angekommen und hier in Sicherheit seien. Er versuchte auch, die Menschen in einem Gemisch aus Englisch und Deutsch über ihre Rechte aufzuklären. Man würde sie zu einer Polizeistation bringen. Dort könnten sie einen Asylantrag stellen. Ihre nächste Station sei dann das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Aus einiger Entfernung näherte sich ihnen ein kleinerer Lastwagen des österreichischen Bundesheeres, der sie dorthin bringen würde.

 
 
 

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