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Flüchtlinge in Not

  • christinewalch
  • 30. März 2019
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Nov. 2019

Nachdem ich mir ein etwas klareres Bild der beiden Staaten Aserbaidschan und Armenien gemacht hatte, setzte ich meine Suche nach weiteren wesentlichen Informationen bei Narine und Artak fort. Ich besuchte sie in ihrem Zimmer im Obergeschoss der ehemaligen Kaserne. Auf den ersten Blick sah ich, dass es Artak nicht gut ging. Er war ein Mann mittlerer Größe, hatte tiefliegende, sehr dunkle Augen und eine gebräunte Haut. Er hätte vom Aussehen her ein Iraner sein können, entstammte aber der Mischehe eines aserbaidschanischen Vaters und einer armenischen Mutter. Er erschien mir mitgenommen und abgemagert. Narine dagegen war eine Armenierin mit heller Gesichtsfarbe, dunklem Haar und einem gewissen Temperament! Sie erzählte mir in brüchigem Englisch von ihrer Flucht aus Armenien, als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. Mit der Zeit lernte ich es immer besser, ihre Ausdrucksweise zu verstehen - ein Gemisch aus Englisch und ein bisschen Deutsch ohne grammatikalische Feinheiten. Beide - Narine und Artak - sprachen Armenisch und fließend Russisch. Als ich sie fragte, warum sie aus Armenien geflohen waren, erfuhr ich, dass es daran lag, dass Artak einen aserbaidschanischen Vater gehabt hatte. Seit dem Krieg zwischen beiden Ländern galt er allerdings als verschollen. Niemand wusste, was mit ihm geschehen war. Artak war in Armenien aufgewachsen und lebte mit seiner armenisch-christlichen Mutter zusammen. Dass er zur Hälfte ein Aserbaidschaner und somit auch Muslim war (er war jedoch überwiegend christlich erzogen worden), war ein Makel, der ihm in Armenien wie ein unansehnlicher Fleck anhaftete. Wie bereits erwähnt, war es zu Vertreibungen von Aserbaidschanern aus Armenien gekommen, und in umgekehrter Folge auch zur Vertreibung von Armeniern aus Aserbaidschan. Was aber sollte mit den Menschen geschehen, die einer binationalen Ehe entstammten wie Artak? Sie passten weder nach Armenien, wenn sie einen aserbaidschanischen Vater hatten, noch nach Aserbaidschan, wenn sie eine armenische Mutter hatten! Ein Artikel aus "Asylpraxis" informierte über aserbaidschanische Volkszugehörige in Armenien nach Angaben des US Department of State darüber, dass "das Verhalten der aserbaidschanischen Volkszugehörigen angesichts der gesellschaftlichen Diskriminierung in Armenien sehr zurückhaltend" sei, und fügte an, dass "die in Armenien verbliebene kleine aserbaidschanische Minorität und die Nachkommen einer armenisch-aserbaidschanischen Partnerschaft nach Erkenntnissen des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) mit Übergriffen aus Kreisen der örtlichen Bevölkerung und fehlender Schutzbereitschaft seitens der Behörden rechnen müssten". (Quelle: Asylpraxis, Selbstverlag 2000) Im Juli 2002 reiste eine Delegation des Österreichischen Roten Kreuzes nach Armenien und informierte danach über Minderheiten im Land. So wurde berichtet, dass es zwar formale Systeme, zum Beispiel zum Schutz von Minderheiten, gäbe, jedoch informelle Systeme und soziale Netzwerke das Leben der Menschen in mindestens ebensolchem Ausmaß bestimmten wie die gesetzlichen Regelungen. Darum komme es informell zu einer Schlechterbehandlung. Sie beträfe Kinder und EhepartnerInnen aus Aseri-Mischehen. Armenischstämmige Flüchtlinge aus Aserbaidschan seien auch einer gewissen Diskriminierung ausgesetzt. Besonders schwierig gestalte sich die Situation aserischstämmiger Rückkehrer nach Armenien.

In einem Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse aus dem Jahr 2003 wurde die Situation ethnisch gemischter Paare in Armenien näher untersucht. Die Aseris waren vor der Massenflucht die größte ethnische Minderheit Armeniens mit 5, 3 Prozent gewesen. Nachdem fast alle in Armenien lebenden Aseris das Land zwischen 1988 und 1992 verlassen hatten, gab es keine offizielle Registrierung der wenigen in Armenien verbliebenen aserischstämmigen Menschen mehr. Die, die sich im Land befanden, waren sehr darum bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Quellen gaben an, dass sich primär Kinder aus gemischt aserisch-armenischen Familien und aserischstämmige Frauen in Armenien aufhielten, darunter auch etliche wenige aserischstämmige Männer. Ihre Zahl kann nur geschätzt werden und bewegt sich zwischen wenigen hundert bis zu etwa tausend Menschen. Es kam auch vor, dass aserischstämmige Ehemänner armenisch-aserischer Mischfamilien auswanderten, während ihre armenischstämmigen Frauen mit den Kindern in Armenien blieben. Berichte über jedwede Diskriminierung lagen nicht vor. Allerdings fühlten diese sich in der bis zu 97 Prozent monoethnischen Gesellschaft nicht mehr ganz wohl. Es konnte vorkommen, dass es zu einer sozialen Isolation kam, und es war auch möglich, dass aserischstämmige Kinder ausgegrenzt und als "Türken" beschimpft wurden. Fehlendes empirisches Datenmaterial wie Berichte oder Beschwerden bedeuten aber nicht, dass es keine Diskriminierung, Schikanierung oder Verfolgung gegeben hat. Von den aserischstämmigen Menschen, die in Armenien lebten - und das waren insbesondere ältere Leute - passten sich viele gänzlich an. Sie nahmen armenische Familiennamen an. Ethnische Aseris oder Personen aus binationalen Ehen mit einem aserischen Elternteil sprechen nicht oder nur sehr ungern über ihre Abstammung, und zwar aus Angst vor einer Aussonderung, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Natürlich wussten die Nachbarn, dass sie es mit aserischstämmigen Personen zu tun hatten. Die am meisten Betroffenen waren Frauen, die sich oft bereits im Rentenalter befanden, gefolgt von Kindern aus binationalen Ehen. Viele Frauen versuchten, sich als Kurdinnen, Jesidinnen oder Armenierinnen auszugeben, um so ihre Volkszugehörigkeit zu verschleiern. Es gab keine gesetzliche, aber sehr wohl eine kulturelle, gesellschaftliche Diskriminierung dieser Mischfamilien. Über konkrete Lebenssituationen wurde allerdings wenig bekannt. (Quelle: Die Situation ethnisch gemischter Paare in Armenien, SFH-Länderanalyse der schweizerischen Flüchtlingshilfe, September 2003)

In einem Informationsblatt zur Flüchtlingspolitik in Mecklenburg-Vorpommern in Deutschland wurde versucht, die Fluchthintergründe geduldeter Armenier genauer zu erklären. Sie stellten die größte Gruppe von Flüchtlingen in diesem Bundesland dar. Nachdem ein sehr schweres Erdbeben 1988 große Zerstörungen hinterlassen hatte und Armenien noch dazu in eine schwere Wirtschaftskrise geschlittert war, begann ab 1997 das Wirtschaftswachstum wieder einzusetzen. Im Jahr 2004 betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen durchschnittlich 790 Dollar. Allerdings litt die Bevölkerung nach wie vor aufgrund enormer wirtschaftlicher Probleme, die nicht so rasch bewältigt werden konnten. Bis zu ungefähr 1 Million Aserbaidschaner und etwa 300.000 Armenier waren zu Flüchtlingen geworden. Die meisten der armenischstämmigen Flüchtlinge sind nie mehr nach Aserbaidschan zurückgekehrt, sondern zunächst nach Armenien geflüchtet. Sie wurden in Armenien aufgenommen, und ihnen wurde ein regelmäßiger Aufenthalt, Zugang zu sozialen Rechten und ein Einbürgerungsanspruch gestattet. Etliche Flüchtlinge wanderten allerdings weiter in andere Länder, zum Beispiel nach Deutschland. Andere waren Durchreisende, die Schutz in anderen Staaten suchten. In Armenien waren ca. 250.000 Flüchtlinge aus Aserbaidschan gemeldet, die beinahe ausschließlich ethnische Armenier waren. Um die Integration dieser Menschen war man sehr bemüht. Doch wirtschaftliche Not und fehlender Wohnraum erschwerte den Zugang zu sozialen Leistungen. Viele waren auf Unterstützung angewiesen, die sie von bereits ansässigen Verwandten oder Kommunen zu bekommen erhofften. Auch wenn die Flüchtlinge anerkannt und registriert waren, gestalteten sich ihre Lebensbedingungen als extrem schwierig. Es gab Gemeinschaftszentren, aber auch lange Wartelisten für die Anwärter auf wenigstens ein Zimmer. Die Bedingungen in diesen Zentren waren denkbar schlecht. Aufgrund des erwähnten Erdbebens war Armenien selbst zu einem Land geworden, aus dem die Leute auswanderten. Viele setzten ihre Flucht nach Russland fort. Der Tschetschenienkrieg ließ Rassismus aufflammen, der sich besonders gegen Flüchtlinge aus dem Kaukasus richtete. Darum flohen viele Menschen weiter nach Westeuropa. Dort gerieten sie allerdings auch unter Druck, da nur prominente Regimekritiker den Asylstatus bekamen. Es wurde ins Feld geführt, dass Krieg und Wirtschaftsprobleme keine "politische Verfolgung" im Sinne des Asylrechts seien. Dazu kam, dass allen Armeniern, die Aserbaidschan verlassen hatten, die Staatsangehörigkeit entzogen worden war. Ohne Staatsangehörigkeit keine Abschiebung, aber auch keinen Abschiebeschutz! Mit einem abgelehnten Asylbescheid und einer Duldung, die besagte, dass man derzeit eben noch nicht abgeschoben werden könne, lässt sich kaum etwas machen. Viele negativ beschiedene Flüchtlinge konnten aber gar nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren - aufgrund von Zerstörungen, die der Krieg angerichtet hatte, aufgrund von Krankheiten, fehlender Existenzmöglichkeiten, verweigerter Ausstellung von Reisepapieren usw. - eine schier aussichtslose Lage vor allem für viele Familien. Allerdings hatten Deutschland und Armenien ein Rückübernahmeabkommen geschlossen, das am 16. November 2006 unterzeichnet wurde. Es sollte ab April 2008 in Kraft treten. (Quelle: Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Vertretung Deutschland;

Landtag Mecklenburg-Vorpommern Drucksache 3/851)

 
 
 

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