Tibors Beharrlichkeit...
- christinewalch
- 30. Dez. 2018
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Aug. 2019
Es wurde ruhiger in den folgenden Jahren, was die Situation der Flüchtlinge aus dem Balkan betraf. Wie in dem Artikel "Warum 1992 klappte, was heute scheitert" von Lukas Zimmer beschrieben (newsORF.at), konnte man von einer gelungenen Integration sprechen. Wenn es positive Zeichen und Signale von der politischen Seite gibt, dann "geht die Bevölkerung gerne mit" - das zeigte sich in dieser Zeit. Ich besuchte einige Male eine bosnische Familie in unserem Ort und trank zum ersten Mal türkischen Kaffee aus einer kleinen Tasse. Unsere Unterhaltungen drehten sich um unsere Kinder, ihre Fortschritte in der Schule und um das, was gerade aktuell war. Ich merkte sehr bald, dass die Tatsache, dass wir eine kinderreiche Familie waren - unser siebtes und letztes Kind kam 2001 zur Welt - sich gerade bei geflüchteten Menschen als ein Türöffner erwies. Es schien Vertrauen zu erwecken. Auch, wenn wir uns im Dorf trafen, standen wir längere Zeit zusammen, erkundigten uns, wie es den Anderen erging, und was es sonst noch zwischen Frauen und Müttern zu besprechen gab. Wenn ich Besorgungen machen wollte, fuhr ich meistens mit unserem VW-Bus und kam dabei in gewissen Abständen auch immer wieder am Flüchtlingsheim Galina vorbei. Die ehemalige Kaserne war noch baufälliger geworden. Im teilweise asphaltierten Hof spielten Kinder. Ältere Erwachsene schauten ihnen dabei zu und genossen die frische Luft. Woher kamen die Menschen, die jetzt hier lebten? Was hatte sie zur Flucht aus ihren Heimatländern bewogen? Wie gestaltete sich hier ihr Leben? Im Vorbeifahren sah ich Frauen mit langen Röcken und Kopftüchern, dunkelhäutige Menschen afrikanischer Herkunft, schwarzhaarige Kinder, Kleinkinder und Babies in Kinderwägen. Das Flüchtlingsheim wurde von der Caritas geleitet. Sie veranstalteten in jedem Jahr mindestens einen "Tag der Offenen Tür". Als der nächste bevorstand, beschloss ich hinzufahren und mir ein Bild von der Flüchtlingsunterkunft und den Bewohnern darin zu machen. Mit anderen Besuchern aus der Umgebung betrat ich das ehemalige Kasernengebäude. Im Untergeschoss gab es Büroräume, aber auch einen größeren Raum, in dem Tische aufgestellt waren, auf denen sich zahlreiche Leckereien befanden. Die Frauen hatten ganze Arbeit geleistet und landestypische Köstlichkeiten aus den Ländern ihrer Herkunft zubereitet. Manche lächelten scheu, andere waren schon mutiger und boten den Besuchern an, davon zu kosten. Die Sprachbarriere war noch eine große Hürde! Wer die zentralasiatische Küche ein bisschen kennt, dem erscheint unsere Art zu kochen geradezu dilettantisch und oberflächlich. Die Frauen verbringen ganze Vormittage damit zu kneten, klein zu schneiden, zu hacken, zu würzen, Teige zu rollen, Bällchen zu formen, umzurühren usw. ! Im allgemeinen Durcheinander der Hausbewohner und Besucher fiel mir ein Mann auf, der sehr intensive Gespräche mit interessierten Gästen führte. Ich blieb in der Nähe stehen, um ihm zuzuhören. Ich erkannte, dass er nach Menschen suchte, die etwas Zeit erübrigen konnten, um die Flüchtlinge zu besuchen, mit ihnen Zeit zu verbringen, Deutsch zu lernen oder andere Hilfeleistungen zu erbringen. Irgendwann wandte sich der Mann an mich. Warum ich hier sei, fragte er unumwunden. Ich antwortete, dass ich wissen wollte, welche Menschen hier lebten, wie sie untergebracht seien und was man tun könnte, um ihre Lage etwas zu erleichtern. Ich fügte hinzu, dass ich Christin sei. Ich hatte in den Tagen zuvor einen Vers aus dem Neuen Testament gelesen, der mich in Unruhe versetzt hatte: "Wer also weiß, was richtig ist, und tut es nicht, für den ist es Sünde." (Jak. 4, 17) Ich wollte gerne helfen - aber wie? Ich hatte eine Großfamilie zu Hause, andere wichtige Verpflichtungen, Aufgaben, die ich mir gestellt hatte.... Wieviel Zeit ich hergeben könnte, wollte der Mann wissen. Einen Vormittag? Eine Stunde am Nachmittag? Ein paar Stunden im Monat? Nur eine halbe Stunde in der Woche? Ich musste über die Beharrlichkeit, die der Mann an den Tag legte, ein bisschen schmunzeln. Aber ich verstand die Dringlichkeit seines Anliegens. Ich antwortete, dass ich darüber mit meinem Mann sprechen müsse und ihm verlässlich Bescheid geben würde. Natürlich interessierte mich, in welcher Eigenschaft er im Flüchtlingsheim war. Er war als Privatperson hier, sagte er. Sein Name sei Tibor. Er sei selber auch ein Flüchtling gewesen - im Zuge der Ungarnkrise 1956. Das erklärte seinen symphatischen ungarischen Akzent. Dann erzählte er, dass er als Kinderpsychologe arbeitete. Er trage den Gedanken mit sich herum, eine Gruppe zu bilden, die sich für Flüchtlinge einsetzte. Er hatte bereits Kontakte geknüpft, sein besonderes Anliegen sei das Bleiberecht für Flüchtlinge, die sich gut integriert hatten. Mit vielen Eindrücken, die ich erst noch verarbeiten musste, fuhr ich wieder nach Hause. Es folgten Gespräche mit meinem Mann. Eigentlich stand meine Entscheidung schon fest. Wenn irgend möglich, wollte ich mich gerne engagieren. Wir einigten uns darauf, dass ich einmal pro Woche ins Flüchtlingsheim fahren würde. Unsere größeren Kinder würden auf die Kleinen aufpassen, mein Mann war dann auch meist zu Hause. Ich teilte unseren Entschluss Tibor mit, der sich sehr darüber freute und mir versicherte, dass ich mich jederzeit an ihn wenden könnte, wenn es notwendig sein sollte. Er hatte sich schon sehr viel Wissen angeeignet und war mir in der folgenden Zeit stets ein guter Ratgeber.
Als ich bald darauf wieder zum Flüchtlingsheim fuhr, nahm ich mir vor, einfach auf die Menschen dort zuzugehen und sie ein bisschen kennenzulernen. Ich hielt mich vor allem bei den Frauen auf, die sich entweder mit ihren Kindern in einem geräumigen Spielzimmer trafen oder in der Küche beschäftigt waren. Mit einer Frau konnte ich mich auf Englisch einigermaßen verständlich machen. Sie sagte, dass sie Armenierin und verheiratet sei und zwei kleine Kinder habe. Sie schien eine starke Persönlichkeit zu sein. Sie scheute sich nicht davor zu sprechen, auch wenn manches für mich nicht ohne weiteres zu verstehen war. Einige weitere Frauen verfolgten neugierig unser Gespräch. Was wusste ich von Armenien? Ich wusste, dass dieses Land zu den frühesten christlichen Kulturen gehört. Zwei Daten sind es, die die nationale Eigenständigkeit markieren: das Jahr 314, als das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, und das Jahr 405, als die armenische Schrift eingeführt wurde. Danach kam es zur Aufteilung des Königreiches Armenien zwischen Ost-Rom im Westen und dem Sassanidenreich im Osten. 1064 eroberten Seldschuken Armenien, im 13. Jahrhundert folgten die Mongolen. 1555 wurde das Land zwischen Persien und dem Osmanischen Reich geteilt. Eine weitere Teilung vollzog man 1639. Die Safawiden erhielten ungefähr das heutige Staatsgebiet, die Türken den größeren westlichen Teil. Im Russisch-Persischen Krieg verlor Persien 1828 die Provinz Armenien an das Russische Kaiserreich. Es kam während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich zum Völkermord an den Armeniern - sie wurden systematisch vernichtet. So schrieb der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau Senior unter ein Foto, das zahlreiche Todesopfer auf dem Boden liegend zeigt, folgende Sätze: "Szenen wie diese waren in den Frühlings- und Sommermonaten 1915 in den armenischen Provinzen der Türkei an der Tagesordnung. Tod in mehreren Formen - Massaker, Verhungern, Erschöpfung - vernichtete den Großteil der Flüchtlinge. Die türkische Politik war die einer Vernichtung unter dem Deckmantel der Deportation." (http://net.lib.byu.edu/estu/wwi/comment/morgenthau/images/Morgen50.jpg) Inzwischen wird der Völkermord an den Armeniern als Genozid bezeichnet, auch wenn das einen Sturm der Entrüstung unter dem türkischen Volk auslöst. 1922 wurde die Grenze zwischen der Türkei und der russischen Einflusssphäre festgelegt. Die zur Sowjetunion gehörende Armenische Sozialistische Sowjetrepublik bekam mit dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit 1991 zugesprochen. Die Gebiete westlich davon blieben verloren.
Da eine Verständigung mit der armenischen Frau am ehesten möglich war, weil sie leidlich Englisch sprechen konnte, setzte ich die Besuche bei ihr fort. Ihr Name war Narine. Je mehr ich mit ihr sprach, desto deutlicher merkte ich, dass ich mehr Informationen über Armenien und seine Nachbarstaaten benötigte. Ich musste mich in diese Thematik einlesen. Ich begann mich über die aktuelle Situation in Armenien zu informieren und über den Bergkarabach-Konflikt der beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan. Dieser Konflikt trat im modernen Zeitalter erstmals zur Unabhängigkeit beider Staaten nach 1918 auf, und während des Zerfalls der Sowjetunion brach er ab 1988 erneut aus.
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