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Flucht - eine Reaktion auf Gefahren, existentielle Bedrohung und unzumutbar empfundene Situationen

  • christinewalch
  • 16. Dez. 2018
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 29. Aug. 2019

Mancher Wunschtraum braucht Zeit. Immer wieder einmal beschäftigt er mich in Gedanken. Er lässt mich nicht mehr los. Ich würde gerne ein Buch schreiben! Doch kaum etwas davon dringt zunächst nach außen. Und dann, eines Tages, bahnt sich etwas an. Mit meinen beiden jüngsten Kindern besuche ich im Jahr 2004 eine Veranstaltung und lerne dabei einen jungen Mann kennen. Er hat dunkles Haar, eine gebräunte Haut und versteht noch nicht sehr viel Deutsch. Unser erstes gemeinsames Gespräch verläuft etwas stockend. Ich erfahre, dass er zu den ersten afghanischen Flüchtlingen gehört, die österreichischen bzw. vorarlbergerischen Boden betreten haben. Langsam entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihm und unserer Familie. Wir laden ihn zu uns ein, unternehmen Ausflüge, besuchen Konzerte, trinken Tee, grillen Kebab und werden miteinander zunehmend vertrauter. Ahmad durchläuft die üblichen Stationen, die ein Flüchtling passieren muss. Seine erste Arbeitsstelle befindet sich auf dem Hochjoch, wo er die Schi-Touristen bedient und die leergegessenen Teller und Gläser im Laufschritt einsammelt. Wir tauschen uns sehr oft über seine Heimat aus. Immer wieder stelle ich ihm Fragen und entdecke dabei, dass ich wirklich nur eine dürftige Ahnung von Afghanistan habe. Im vierten Jahr unserer Freundschaft reden wir wieder einmal über seine verlorene Heimat und über seine Flucht. Was er erzählt, löst stets Betroffenheit aus, auch wenn man es schon einmal gehört hat, ist aber auch in gewisser Hinsicht spannend und reich an Informationen über seine Kultur, die ihn sehr geprägt hat. Es ist der Sommer 2008, und der Himmel ist blau - wenn auch nicht von dieser ausgeprägten Bläue wie der Himmel über Afghanistan. "Du solltest deine Geschichte einmal aufschreiben," sage ich zu ihm. "Sie ist es wirklich wert, aufgeschrieben zu werden!" Er blickt mich an und antwortet, dass er auf Deutsch nicht schreiben kann - und wer, bitte schön, kann in Vorarlberg Farsi verstehen oder gar lesen? Er versichert mir, alles zu erzählen, was er weiß von seinem Land und dem Schicksal der Menschen. Bald darauf sitze ich mit Ahmad unter dem Walnussbaum in unserem Garten, dessen längliche, grüne Blätter das Sonnenlicht filtern. Der junge Mann erzählt, ich mache mir Notizen, die Seite um Seite füllen. Der Stein ist ins Rollen gekommen! Was zunächst nur ein Gedanke war, eine Idee, ein Wunschtraum, ist nun Wirklichkeit geworden. Wir werden eine Geschichte schreiben - die Geschichte einer gefahrvollen und sehr beschwerlichen Flucht aus Afghanistan. Natürlich ist es ein Wagnis, das ist mir sehr wohl bewusst. Doch ich bin entschlossen, es zu versuchen - zu versuchen, mich Schritt für Schritt in ein sehr fernes Land, in eine gänzlich andere Kultur, in eine völlig andere Gesellschaft, in fremde Traditionen, Sitten und Gebräuche, in eine mir bislang unbekannte Mentalität, die ein völlig anderes Lebensgefühl hervorruft, als ich es kenne, hinein zu begeben. Und das, obwohl ich Afghanistan noch nie mit eigenen Augen gesehen habe ... Wie hat es eigentlich angefangen? Das Thema "Flucht" trage ich ja schon seit vielen Jahren in meinem Herzen. Ich war betroffen als junge Mutter kleiner Kinder, als während des Jugoslawienkrieges in den 1990-er Jahren viele Menschen nach Vorarlberg kamen. Man sah ihnen an, dass sie viel Schweres und Leidvolles durchgemacht haben mussten. Laut Medienservicestelle flohen an die 90.000 Menschen aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich. 60.000 Bosnier wurden in Österreich sesshaft. Jeweils 13.000 Menschen flohen aus dem Kosovo und aus Kroatien nach Österreich. Es kam zu einer drastischen Zunahme von Asylanträgen. Mein Mann und ich hatten in dieser Zeit mit unserer wachsenden Familie alle Hände voll zu tun, aber ich öffnete unser Haus den Flüchtlingskindern, die mit unseren Kindern in den Kindergarten oder zur Schule gingen. So lernten wir unter anderem Miloš kennen. Es gefiel ihm so gut bei uns, dass er an freien Tagen von morgens bis abends in unserem Zuhause war und sich nur ungern zum Schlafen nach Hause trollte. Irgendwann trennten sich unsere Wege, weil Miloš mit seiner Familie wegzog. Doch ich werde ihn nie vergessen. Ebenso wenig werde ich den Familienvater und Musiker vergessen, der aus Sarajewo stammte. Ich begegnete ihm oft auf dem Weg zum Kindergarten, wohin er seine beiden kleinen Mädchen brachte. Wir führten etliche Unterhaltungen miteinander. Was er bruchstückhaft vom Krieg erzählte, fühlte sich an wie unsichtbare Lasten, die er mit sich herumschleppte. Sie ließen mich erschauern. Auch dieser Mann verschwand mit seiner Familie nach einer Weile aus unserem Gesichtsfeld. Ich wünschte, ich hätte seine Musik kennengelernt! Die Flüchtlinge schienen sich gut in Österreich einzuleben. Es gab Menschen, die sich mit viel Engagement für sie einsetzten und Projekte ins Leben riefen wie zum Beispiel die Bosna Quilt Werkstatt in Vorarlberg, von der Malerin Lucia Feinig-Giesinger initiiert und geleitet. Es handelt sich dabei um ein "österreichisch-bosnisches Textilkunstprojekt, das in einem Flüchtlingsheim (der ehemaligen Galina-Kaserne an der B 190 Richtung Frastanz, Anm. d. Verfasserin) entstanden ist und bosnischen Frauen Arbeit gibt". Mir gefällt der Ausdruck "Vernähte Zeit" sehr gut, der für die Ausstellungen gewählt wurde, die in der Folge stattfanden. Die Arbeit an den Quilts, die allesamt Unikate sind und die Handschrift der jeweiligen Frau tragen, die den Quilt steppt, war den Frauen sicherlich eine ganz große Hilfe, wieder in ein einigermaßen normales Leben zurückzufinden. Ich bin sicher, dass es noch etliche weitere Privatinitiativen in dieser Zeit gab, um den Flüchtlingen zu helfen und sie ins Leben zurückzuholen. Ich stieß auf einen guten Artikel mit der Überschrift "Warum 1992 klappte, was heute scheitert", den Lukas Zimmer am 10. 08. 2015 unter newsORF.at veröffentlicht hat. Er vermittelt interessante Einblicke in die herausfordernde Zeit in den 1992-er Jahren. Ende 1991 konnten in Österreich etwa 30.000 Asylwerber aus Ex-Jugoslawien untergebracht werden, und es wurde Vorsorge dafür getroffen, dass möglicherweise noch weitere 60.000 Flüchtlinge dazukommen würden. Niemand sprach aber damals von einer "Welle" oder einem "Ansturm". Österreich tat offensichtlich das, was in einer solchen Situation zu tun war - rasch und unbürokratisch zu handeln. Wie war das möglich? Lag es daran, dass der Krieg damals sehr nah an unser Land heranrückte, dass er sich in bestimmten Gegenden nur "ein paar Kilometer weit entfernt" ereignete? Aufgrund regelmäßiger Berichterstattung konnte man den Bildern des Schreckens nicht entfliehen. Man sah sie und konnte sie nicht ignorieren. Auf irgendeine Weise musste man dazu Stellung beziehen. Die ins Leben gerufene Bosnien-De-facto-Unterstützungsaktion zwischen 1992 und 1998 - kurz De-facto-Aktion genannt - unterschied sich von der herkömmlichen Asylpraxis dadurch, dass die Flüchtenden "de jure" keine Flüchtlinge waren und daher keinen Aufenthaltstitel hatten. Nur einem sehr kleinen Teil der Vertriebenen konnte der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden. Daher wurde kein Verfahren nach der Genfer Konvention und dem Bundesbetreuungsgesetz in die Wege geleitet, sondern über das Aufenthaltsgesetz wurden die Genehmigungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erteilt. Mit dieser österreichischen Lösung konnten die Kriegsflüchtlinge den Flüchtlingen nach internationalem Recht gleichgestellt werden. Ich halte die persönlichen Kontakte zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen für überaus wichtig. Die wurden auch vielerorts gepflegt. Auch, dass es Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge gab, ja der Arbeitsmarkt für sie geöffnet wurde, legte damals einen guten Grundstein für Integration. Insgesamt gesehen verlief der Prozess sehr zufriedenstellend, denn der Verzicht auf Kompetenzstreitigkeiten zwischen Behörden, Ministerien, Bund und Ländern machte es möglich, dass damals notwendige Entscheidungen im Innenministerium unbürokratisch getroffen werden konnten.

 
 
 

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