Eine mehr als denkwürdige Reise
- christinewalch
- 20. Dez. 2018
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Aug. 2019
"Grenz-Situation"
Nachdem wir als Familie über 15 Jahre hinweg niemals eine Urlaubsreise gemacht hatten, dachten wir, dass es an der Zeit sei, unseren damals sechs Kindern das Meer zu zeigen - bevor unser ältester Sohn eigene Pfade beschreiten würde. Wir entschieden uns, nach Kroatien zu fahren. Zusammen mit meinem Bruder, dessen Frau und ihren zwei Mädchen machten wir uns in den Sommerferien 2000 auf die Reise. Wir besaßen einen älteren VW-Bus, der keine Höchstgeschwindigkeiten aufbieten konnte, aber wunderbar Platz bot für uns acht Personen. Mein Bruder fuhr ein repräsentativeres und schnelleres Auto, weswegen er immer mal wieder abseits stehenbleiben musste, um auf uns Nachzügler zu warten.
Auf unserer ersten Urlaubsreise konnten wir zum ersten Mal ein klein wenig nachempfinden, welchen psychischen Stress Menschen durchmachen müssen, wenn sie als Flüchtlinge in die Nähe einer Staatsgrenze kommen, müde, verschwitzt, hungrig und durstig, belastet durch vorangegangene, schreckliche Geschehnisse, wenn ihnen die Ein- oder Durchreise verweigert wird, weil es Probleme mit einem gefälschten oder nicht vorhandenem Pass oder anderen fehlenden Papieren gibt. Wir befanden uns zwischen der italienischen und slowenischen Grenze in einer Art Niemandsland auf dem Parkplatz des Duty-free-Shops. Die Kinder waren nach stundenlanger Autofahrt überreizt und quengelig, das Baby müde und weinerlich, wir Erwachsenen angespannt, weil sich keinerlei Lösung unseres Problems abzeichnete. Die Ausreise aus Italien hatte keinerlei Schwierigkeiten gemacht, aber die slowenischen Grenzbeamten wiesen meinen Bruder ab, weil sein Pass seit einem Monat abgelaufen war. Nach der ersten abweisenden Geste des Grenzbeamten und der Aufforderung umzukehren waren wir noch einmal auf die italienische Seite zurückgefahren und hatten versucht herauszufinden, ob die Möglichkeit bestünde, von Triest aus mit einer Fähre direkt nach Kroatien zu reisen, ohne Slowenien passieren zu müssen. Aber da schien sich kein Weg aufzutun. Nun waren wir also auf diesem Parkplatz, nicht hier und nicht dort, und warteten - warteten vor allem darauf, dass sich Goran meldete. Goran war mit einer Schwester meiner Schwägerin verheiratet und verbrachte die Ferienzeit mit seiner Familie in Rijeka. Die einfachste Lösung für uns wäre, wenn Goran von Rijeka zu uns herüberkäme, meine Schwägerin und die Mädchen mitnehmen und uns vorausfahren würde, beratschlagten wir. Mein Bruder musste vorläufig auf italienischem Boden bleiben und von dort aus versuchen, sein Passproblem zu lösen. Die Nacht senkte sich über das Grenzgebiet. Wann und wie sollten wir weiterkommen? Würden wir hier auf dem Parkplatz übernachten müssen? Wie sollte das gehen - wir zu acht in unserem Bus? Immer wieder trafen Autos anderer Reisender auf dem Parkplatz ein und fuhren wieder weg. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer wanderten über den asphaltierten Platz und glitten über niedriges Gebüsch, Abfalltonnen und Zäune. Ganz kurz beleuchteten sie unsere Kinder, die je nach Verfassung weinend auf den Plastikstühlen vor dem Shop saßen - wie Tirzah und Annika - oder sich entschlossen hatten, zwischendurch herumzuhüpfen und rund um die Straßenlaternen zu spielen - wie Tabea, Sophia und Benjamin. Daniel und Frank waren abwechselnd empört oder ratlos. Und doch: Wir waren keine Flüchtlinge. Wir hatten unser Land aus erfreulichen Gründen verlassen. Wir wollten einen Urlaub am Meer verbringen. Wir hatten unser Zuhause nicht aufgeben müssen, es wartete auf uns bis zu unserer Rückkehr. Wir wussten, dass in unserem Zielort eine Unterkunft für uns bereitstehen würde. Selbst die Passprobleme meines Bruders stellten letztlich kein unüberwindliches Hindernis dar. Wie fühlt sich das für Menschen an, die derlei Gewissheiten nicht mehr haben? Deren Heimat im Untergang begriffen ist, deren Häuser zerstört wurden, und die im Gastland weder erwartet noch gewollt werden? Deren Zukunft völlig im Dunklen liegt? Die der Willkür der Beamten ausgesetzt sind? Endlich kam eine telefonische Verbindung mit Goran zustande. Er würde sofort losfahren, erklärte er. Bis er in den Parkplatz einbog, vergingen noch einmal anderthalb Stunden. Goran verbreitete Optimismus. Er sagte, er wolle mit den Grenzbeamten noch einmal reden. Nach kurzer Zeit kam er mit meinem Bruder erfolglos zurück. "Wenn ich noch länger geredet hätte, sie mich hätten in Gefängnis gesteckt!", meinte er. Ich vermute, dass er nicht gerade wählerisch mit seinen Worten umgegangen war. Nachtfahrt durch Slowenien
Es war ein eigenartiges Gefühl, sich von meinem Bruder verabschieden zu müssen. Er fuhr in Richtung Triest und versuchte dort ein Hotelzimmer zu bekommen. Dann wollte er am nächsten Morgen mit einem zeitlich befristeten sogenannten Not-Pass von der Botschaft die slowenische Grenze passieren. Wir verteilten uns auf Gorans Auto und auf unseren Bus. Die slowenischen Grenzbeamten waren ja bereits auf uns aufmerksam geworden. Zudem hatte Goran versucht, sie beschwatzen zu können und meinen Bruder durchfahren zu lassen. Darum knöpften sie sich nun unsere Fahrzeuge gründlich vor. Sie forderten Goran auf, seinen Kofferraum zu öffnen, und es muss sie sehr erstaunt haben, ein Marmeladenlager vorzufinden! Das sah meiner Schwägerin ähnlich: Sie glaubte womöglich, in Kroatien gäbe es weder Marmeladen noch anderes Süßes!? In sämtlichen Pässen blätterten die Beamten umständlich lange herum. Wir wurden nach unserer Kinderzahl abgezählt. Dann wanderten die Pässe in unsere Hände zurück, wir stiegen wieder ein und brausten davon in die Nacht. Und diese Fahrt hatte schon etwas Unwirkliches an sich!
Goran fuhr sehr zügig voraus - wie einer eben, der die Strecke wie seine Westentasche kennt. Wir hefteten uns an seine Fersen - oder soll ich sagen Bremslichter? Es schien sich um enge Straßen zu handeln, gesäumt von Hecken, durchsetzt von Bodenunebenheiten und Löchern, und allesamt führten die Straßen bergab, der Küste entgegen. Wir fuhren durch Dörfer mit unaussprechlichen Namen, in denen vereinzelte Hausfenster noch erleuchtet waren. Niemand war auf den Straßen zu sehen, es war ja schon nach Mitternacht. In einer Kurve vor uns schien Goran sein Lenkrad herumzureißen, und etwas zu spät erkannte Jürgen, dass er einem Fuchs ausgewichen war. Er geriet genau unter unsere Räder. Der arme, slowenische Fuchs! Die Kinder waren untröstlich. Stehenbleiben konnten wir nicht, denn Goran brauste einfach weiter, und wir mussten ihm folgen, um uns nicht zu verirren. Wir passierten die kroatische Grenze und näherten uns Rijeka auf einer Straße, die von den Bergen herunterkam, und konnten Hochhäuser um Hochhäuser erkennen, die wie schlafende graue Riesen aneinandergereiht die Straße säumten. Dann das Meer, in dem sich Hunderte von Lichtern spiegelten. Im Licht sehr starker Scheinwerfer sahen wir ein riesiges Schiff am Kai liegen mit blinkenden Aufbauten, die Decks blütenweiß leuchtend in der Dunkelheit ringsum. Dass so etwas Riesiges überhaupt schwimmen konnte!
Noch unwirklicher war dann die Auffahrt auf die weitgezogene Tito-Brücke, die das Festland mit der Insel Krk verbindet. Der Küstenbereich hier schien ziemlich kahl und felsig zerklüftet zu sein, das Gestein leuchtete hell im Dunkel der Nacht. Ziemlich tief unten, jedoch über der Linie des Horizontes, hing wie ein goldener Lampion der Mond, der viel größer wirkte als zu Hause. Die Straße führte auf der Insel leicht bergan und war bald gesäumt von Hecken, Bäumen und Steinmauern. Unsere Scheinwerfer glitten über dunkelgrün belaubte Sträucher. Unser Ziel war Malinska, dort fuhren wir ein bisschen kreuz und quer, bis wir das enge Gässchen fanden, das von der Hauptstraße linkerhand zu einem Haus führte. Die Frau, die uns die Appartements in ihrem Haus vermietete, war noch wach, kam uns auf der schmalen, kleinen Gasse entgegen und nahm uns in Empfang. Ich war so müde, dass ich mit dem Kleinen auf dem Arm automatisch hinter ihr herlief, zu allen ihren Erläuterungen nickte und von ihr nur das freundliche Gesicht im Gedächtnis bewahrte. Zuerst brachten wir unsere Kinder zu Bett, bevor wir todmüde in die Kissen sanken. Gott sei Dank - wir waren angekommen.
Wir besuchten Goran und seine Familie, als wir nach Rijeka fuhren, um uns ein bisschen in dieser Stadt umzusehen. Es war sehr heiß, das Thermometer zeigte 38 Grad an. Darum waren wir froh, nach unserer Sightseeing-Tour Gorans Wohnung in einem Wohnblock oberhalb der Stadt mit Blick über die Bucht aufsuchen zu können, in der es dank Klimaanlage angenehm kühl war. Da saßen wir und tranken Kaffee. Wir erfuhren, dass Gorans Familie diese Wohnung als Entschädigung für den verlorengegangenen Besitz in Bosnien-Herzegowina bekommen hatte. Sie hatten dort ein Haus und etwa acht bis zehn Hektar Land besessen. Sie erzählten von weiten Kornfeldern, an deren Rändern Mohnblumen wuchsen - landschaftlich erinnere die Gegend an Kärnten. Gorans Vater war von den Serben gefoltert worden und an Krankheit und Misshandlung gestorben. Gorans jüngste Schwester wisse, wer die Peiniger des Vaters gewesen seien, sie könne sie namentlich nennen. Die Mutter hatte nach dem Tod des Vaters Bosnien-Herzegowina eigentlich nicht verlassen wollen. Sie habe zu den letzten gehört, die ihr Dorf in der Nähe von Banja Luka verlassen mussten, mit einer Plastiktasche, gefüllt mit wenigen Habseligkeiten, nicht schwerer als drei Kilogramm, als das einzige, was sie noch hatte. Jetzt würden andere Leute in Gorans Elternhaus leben, aber die Mutter versuche, ihren einstigen Besitz wieder zu bekommen. Wer aber wollte dort wieder leben, umgeben von Menschen, die womöglich immer noch feindlich gesinnt waren? Und was war mit den Peinigern des Vaters - die lebten ja auch noch! Jürgen wollte wissen, ob Goran Rachegedanken habe. Was heißt Rache, meinte Goran, das löse einfach keine Probleme, obwohl es keine Schwierigkeit sei, in Rijeka an den richtigen Orten Leute zu finden, die bereit wären, für ein gutes Abendessen nach Banja Luka zu fahren und jemanden umzulegen. Aber mache das den Vater wieder lebendig?
Bei einer Recherche im Internet stieß ich auf die Verfilmung des Schicksals eines Mannes, der ein Massaker überlebt hatte. Als bosnischer Muslim geboren, heißt er Rajif Begić . Er wurde mit anderen Männern seines Dorfes gefangengenommen. Sie mussten eine längere Wegstrecke zurücklegen, um einen Fluss zu erreichen, und wurden während des Marsches verhöhnt und gedemütigt, einige der Nachbarn Rajif Begićs wurden während des Marsches kaltblütig erschossen. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, mussten sie sich auf der Brücke in Reih und Glied aufstellen. Dann wurde der erste Mann aufgefordert, über das Brückengeländer zu klettern und in den Fluss zu springen. Sobald er auf dem Wasser aufschlug, begannen die serbischen Soldaten, auf ihn zu schießen und töteten ihn. Dann war der Nächste an der Reihe. Rajif Begić wechselte mit seinem 15-jährigen Bruder noch einen längeren Blick. Als er über das Geländer klettern sollte, befahl ihm ein Soldat, seinen Mund zu öffnen und steckte den Lauf seines Maschinengewehrs in die Mundöffnung. Dann musste er springen. Er überlebte den Sprung, zog sofort sein helles T-Shirt aus und ließ es im Wasser weitertreiben. Die Soldaten schossen von der Brücke auf das T-Shirt. Er verbarg sich im Wasser und strebte dann dem Ufer zu, wo er sich zwischen Ufergestrüpp versteckte. Er hatte sich beim Sprung eine schlimme Verletzung zugezogen und war nicht imstande, gleich weiter in den Schutz der Bäume zu gehen. Als er genug Kraft gesammelt hatte, machte er sich auf den Weg und bat eine Verwandte im Nachbardorf um Hilfe. Sie versorgte seine Wunde, meldete ihn allerdings bei einem Checkpoint. Er kam in Lagerhaft. Er nahm sich vor, dass er - wenn er weiter überleben würde - seine Geschichte beim Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien erzählen würde, was er dann auch tat.
Fahrt nach Plitvice - Plitvička jezera
Etwas vom Eindrücklichsten, was ich je erlebt habe, war diese Fahrt nach Plitvice. In der Erinnerung sind Bilder haften geblieben, die ich nicht so schnell vergessen werde. Wir fuhren nämlich durch vom Krieg gezeichnete Ortschaften. Wenn man den Krieg nur vom Hörensagen oder vom Lesen her kennt, kann man sich das einfach nicht vorstellen, wie das ist - Einschläge von Granaten, das Rattern von Maschinengewehren, Explosionen, Geschützfeuer. Und obwohl seit dem Ende des serbisch-kroatischen Krieges vier Jahre vergangen sind und andere Gebiete viel schlimmer zerstört wurden, waren die Zeichen der Gewalt unübersehbar und verdeutlichten die Grausamkeit von Krieg und Terror.
Goran hatte uns schon vorgewarnt, dass wir durch Dörfer fahren würden, die vom Krieg ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Aber sie dann vor sich zu sehen, ist doch etwas anderes. Schon als wir eine Pause auf einem kleinen Parkplatz machten, den auch viele Busse und andere Autos frequentierten, stieß ich bei der Suche nach einem geschützten Örtchen zwischen Bäumen und Sträuchern, kaum hundert Meter entfernt, auf ein größeres Gebäude, das ein Rasthaus gewesen sein könnte. Fensterscheiben lagen in Scherben auf dem Platz vor dem Haus, dazu jede Menge Unrat und kaputte Wasserleitungen. Durch eine Türöffnung konnte ich zerstörte Toiletten und Waschanlagen sehen, vermoderte Matratzen und zerbrochenes Mauerwerk. Warum sollte man ein solches Haus derart verfallen lassen? Daneben befand sich ein bis auf die Grundmauern zerstörtes kleineres Haus. Warum gab es hier von Unkraut überwucherte Sandsäcke, die verstreut im Gelände herumlagen? Auch die mit Steinplatten belegten Pfade und Wege waren im Gras teilweise kaum mehr zu erkennen. Was hatte sich hier abgespielt?
Wir fuhren weiter über das Land. Sehr viele bäuerliche Anwesen standen leer, die Fensteröffnungen waren mit Brettern zugenagelt worden, die Haustüren aus den Angeln gerissen. Die Hauswände waren mit "ganzen Garben kleinkalibriger Geschosse übersät" - so stand es auch im Reiseführer. Von vielen Häusern standen nur noch die Grundmauern, die Kamine ragten rußgeschwärzt gegen den Himmel. Im Örtchen Brloc wuchsen aus einigen Häuserruinen inzwischen ganze Bäume heraus. Überall verkohlte Balken, Trümmer, Zerstörung, Freiheitsparolen an Häuserwände gesprüht. Der Wiederaufbau war im Gange. Aber viele Bewohner waren getötet worden, deren Anwesen blieben verwaist, über andere herrschten unklare Besitzverhältnisse. Wir sahen über beschossenen Häusern neue Dächer. Goran sagte, dass die Leute zunächst einmal einen Raum bewohnbar machen, dann nach und nach das weitere Haus reparieren. Äcker und Felder neben solchen Häusern wurden wieder bewirtschaftet, aber vermutlich fehlte es an allem. Ich sammelte Eindrücke. Ein Mann, der mit seinem kleinen Sohn über einen Acker wandert und Getreide aus einem Sack schwungvoll aussät. Ältere Frauen mit Kopftüchern in einem von einem wackeligen Zaun abgetrennten Hof. Streunende Hunde. Wäschestücke auf der Leine, die zwischen zwei Bäumen über einen mit Trümmern und kaputten bäuerlichen Fahrzeugen bestückten Hof gespannt ist. Große Heuhaufen um eine lange Stange herum, am oberen Ende mit einem Stück Plastik abgedeckt. Frauen in Schwarz mit wollenen Tüchern um die Schultern. Hie und da aber auch Blumen, die in den merkwürdigsten Behältern wuchsen. Ein alter Hirte mit Ziegen und Schafen, der sich auf seinen Stock stützt. Wildverwachsene Obstbäume. Auf der Hinfahrt nach Plitvice regnete es und war es trüb, was den traurigen Eindruck noch verstärkte, bei der Rückfahrt schien die Sonne über dieses Hinterland. Dann saßen vor einigen Häusern Leute an der Straße hinter einem kleinen Tischchen, über das sie eine weiße Decke gebreitet hatten, und boten Honig, Käse und Schnaps zum Verkauf an. Nur wenige Touristen blieben stehen, um etwas zu kaufen. Wir wären gerne bei einem solchen Tischchen stehengeblieben und hätten Honig, Käse und Schnaps von den Leuten gekauft, die den Krieg überdauert haben und das fruchtbare Land wieder bewirtschaften. Wir hatten das Goran auch gesagt. Aber leider blieb er nirgends stehen. Sonnenschein mildert manches. Die Höfe gewannen wieder etwas an Reiz, wenn Kinder dort spielten, Frauen schwatzten und sich Rauch aus einem Kamin kräuselte.Ein Mann erntete Mais von seinem Feld - von Hand, ohne Maschinen. Otočac ist ein größerer Ort. Auch hier gab es garbenübersäte Häuserfronten und heruntergefallenen Stuck, aber die Menschen gingen wieder ihren Geschäften nach, Männer saßen in einem Straßencafe. Goran sagte, dass es immer wieder Tote gäbe, die bei der Arbeit auf den Feldern auf Minen gerieten. Unser zweiter Sohn wollte, dass ich ein zerstörtes Haus fotografierte. Ihn beeindruckte es sehr, dass wir durch solch eine Gegend fuhren, doch ich merkte, dass sich viel jungenhafte Faszination an Kriegsgeschehen bemerkbar machte. Er war fast enttäuscht, dass er keinen einzigen Panzer zu Gesicht bekam! Natürlich geschah es, dass Urlauberautos bei beschädigten Häusern stehenblieben und die Leute Fotos machten. Mir ging das Ganze zu nahe - es kam mir fast makaber vor, ein geschändetes, übel zugerichtetes Haus zu fotografieren.
Unsere Appartement-Vermieterin war eine sehr nette Frau, die uns morgens mit einem üppigen Frühstück verwöhnte, das wir auf ihrer Terrasse genossen. Sie hatte einen Mann, von dem sie inzwischen geschieden war. Sie meinte, die Veränderung in seinem Wesen und Charakter habe schon vor Jahren begonnen, sie erwähnte aber auch den Krieg als möglichen Mitauslöser. Jedenfalls schien Darko manisch-depressiv zu sein, was sich sehr belastend auf ihre Ehe ausgewirkt hatte. Es wäre dringend notwendig, dass er seine Medikamente nähme, sagte sie, denn nur so könne er ein weitgehend normales Leben führen. Aber das lehne er ab, und ins Krankenhaus wolle er erst recht nicht gehen. Das mache das Leben oft sehr schwierig, denn er sorge für immer neue, oft lästige Überraschungen. Das Problem für uns war, dass wir uns auf derselben Wohnebene befanden wie er. Ihm gehörten nämlich ein geräumiges Appartement und ein kleiner Raum im Erdgeschoss. Entweder mietete Darko eigene Gäste in sein Appartement ein, oder er rumorte selbst darin herum. Wenn seine Tür zufällig offenstand, konnten wir sehen, was da für ein Riesendurcheinander herrschte. So wirr, wie es im Kopf dieses Mannes aussah, war es auch um ihn herum. Hatte er sein Appartement vermietet, mussten die Gäste zuerst einmal aufräumen und allerhand Unrat nach draußen schleppen, der sich angesammelt hatte, und da gab es allerhand: fauliges Obst, Wasser in einem Bottich, in dem alte Schuhe schwammen, Unmengen von Papier und Krempel. Es war unglaublich, was Darko alles in seinen Räumen hortete! Und doch schien er immer Leute zu finden, die dringend eine Bleibe suchten und es in Kauf nahmen - zwar kopfschüttelnd und ärgerlich - seine Wohnstätte zuerst einmal vom gröbsten Schmutz zu befreien. In der Zeit, die wir in Malinska verbrachten, vermietete Darko seine Wohnung an eine Familie, die vom äußersten Norden des Landes heruntergekommen war. Der Mann verkaufte am Strand gerösteten Mais, unterstützt von seiner Frau. Sie hatten drei Kinder. Den Mais hatten sie in einem großen, grünen Transporter hergefahren, er stand während der paar Tage im angrenzenden Grundstück, das zum Hausbesitz gehörte.
Darko selbst war damals zwischen 50 und 60 Jahre alt. Er war mittelgroß und eigentlich von schmächtiger Gestalt, nur fiel das nicht so auf, wenn er daherkam. Mit seiner Kleidung und vor allem seinen Kopfbedeckungen zog er alle Blicke auf sich. Er trug eine dunkle, lange Hose, ein langärmliges kariertes Flanellhemd, darüber eine schwere hüftlange Jacke aus Wollstoff. An seinem Hosengürtel hingen an Ketten und Karabinern die merkwürdigsten Dinge: ein Blechlöffel, Flaschenöffner, Ledertaschen, Amulette und undefinierbare Gegenstände, die bei jedem Schritt klingelten. Er hatte wache, flinke Augen und konnte sehr durchdringend blicken. Über den Kopf hatte er ein auffallend gelbes Tuch gelegt, und ähnlich wie ein Araber mit einer Art Stirnband aus Stoff so befestigt, dass es nicht ständig verrutschte. Und er trug einen grauen Vollbart. Er verfügte über eine sonore, fast angenehme Stimme. Darko suchte immer Kontakt zu den Leuten, denn seine Absicht war es, ihnen lange, kaum durchschaubare Vorträge über seine Lebensphilosophie zu halten, in der die Entwicklung der verschiedenen Sprachen und Babylon eine zentrale Rolle zu spielen schienen. Als sich Jürgen einmal auf eine Diskussion mit ihm einließ, und irgendwann sagte, er glaube an die Bibel als das Wort Gottes, wurde Darko richtig wild. Er behauptete, die Bibel sei voller Fehler. Es kam zu einem Wortgefecht, bei dem Darko immer lauter wurde. Aber Jürgen blieb dabei: "No mistakes in the Bible!" Natürlich hatte Darko immer Geldprobleme - darum die Mieter in seinem Appartement. Manchmal, wenn er Geld hatte, konnte er aber auch haufenweise Fisch kaufen und die Idee haben, sie mit Gewinn im Hafen unten weiter zu verkaufen, nur zog er solche Geschäfte nicht durch. Die Fische verrotteten irgendwo, und das Geld war weg. Er machte auch sogenannte "Exhibitions", bei denen er sein Gerümpel irgendwohin karrte oder jemanden fand, der bereit war, ihm die Sachen in einen bestimmten Ort zu bringen. Dort blieben sie so lange stehen, bis mitunter die Polizei kam und ihn mitsamt seinem Gerümpel vor dem Haus wieder ablud.
Was mochte Darko wohl aus der Kriegszeit belasten? Hatte er jemanden erschießen müssen? Musste er Exekutionen beiwohnen? Auf jeden Fall war er belastet und unstet und ruhelos. Unsere Vermieterin hatte es wahrscheinlich nicht fertig gebracht, Darko wegzuschicken, sondern ihn in ihrem Haus weiterhin wohnen lassen. Wenn es jemanden gab, der mit Darko umgehen konnte, dann war sie es - durch alle Schwierigkeiten hindurch.
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